Workshop:
Die Nuklearkrise: Der Nato ‐Doppelbeschluss und die Friedensbewegung der 1980er Jahre
Veranstalter: Christoph Becker-Schaum (Heinrich Böll Stiftung/AGG Berlin), Philipp Gassert (Universität Augsburg). Martin Klimke (GHI Washington), Wilfried Mausbach (HCA Heidelberg), Marianne Zepp (Heinrich Böll Stiftung Berlin)
Datum & Ort: 01.-02.04. 2011, Heidelberg Center for American Studies (HCA), Universität Heidelberg
Bericht von: Alexander Holmig (Universität Augsburg)
Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung der 1970/80er Jahre geraten zunehmend in den Fokus der Zeitgeschichte.[1] Das Ziel dieses Workshops bestand darin, die vorhandene und in der Entstehung begriffene Forschung zum Thema zu bündeln und zukünftige Perspektiven zu diskutieren.
Das erste Panel wurde von ANJA HANISCH (Berlin) eröffnet, die den Prozess einer gemeinsamen europäischen Sicherheitskonferenz seit den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der neuerlichen Verschärfung in der Systemauseinandersetzung der 80er Jahre betrachtete. Basierend auf Ihrem Vortrag wurde auf die nicht unproblematische Verwendung des Begriffs „Zweiter Kalter Krieg“ hingewiesen und die noch unerforschten Wirkungen des KSZE-Prozesses für die gesamteuropäischen Friedensbewegungen bzw. deren Strategien. TIM GEIGER (Berlin) befasste sich mit Vorgeschichte und Implementierung des NATO-Doppelbeschlusses und betonte dabei die systemische Globalkomplexität dieser Entscheidung. Geiger betonte, dass in der gleichberechtigten Betrachtung von militärisch-technischer Innovation und deren gesellschaftspolitischer Wirkung ein Schlüssel zum Verständnis des langfristigen Wandels der transatlantischen Beziehungen in den 1980er Jahren liege. FLORIAN PRESSLER (Augsburg) stellte seinem Blick auf „Die 1980er Jahre und das internationale politische System“ die Frage voran, ob es sich hier um einen Sieg der Rüstungskontrolle gehandelt habe und wem dieser Sieg zu verdanken sei. Er betonte die Bedeutung Michail Gorbatschows für die Abrüstungserfolge der 80er Jahre. Um seine innenpolitische und wirtschaftliche Reformagenda durchsetzen zu können, habe Gorbatschow die Abrüstung forciert und im Gegensatz zu Reagan weitgehende Zugeständnisse gemacht. Angemerkt wurde, dass der Wandel im inter-systemischen modus operandi nicht nur diplomatischen Kausalitäten folgte, sondern die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. die innen- wie außenpolitische Wirkung von Tschernobyl, der Faktor „Emotionen/Angst“) sowie die Rolle der KSZE, die als „Türöffner“ neue Kommunikationsräume für Folgeverhandlungen geschaffen habe, nicht zu unterschätzen seien.
Panel 2 begann mit HERMANN WENTKER (Berlin), der den NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher Perspektive betrachtete. Wentker unterstrich, dass beide deutsche Staaten durch den Doppelbeschluss u.a. vor der Herausforderung standen, die Gefolgstreue im jeweiligen Bündnis mit der Aufrechterhaltung der deutsch-deutschen Beziehungen in Übereinkunft zu bringen. Anschließend daran wurde u.a. die Frage debattiert, ob die fortschreitende deutsch-deutsche Annäherung in den 80er Jahren als „paradoxe Folge“ des NATO-Doppelbeschlusses gewertet werden könne. JAN HANSEN (Berlin) untersuchte, welche Wirkung Doppelbeschluss- und Nachrüstungsdebatte innerhalb der Parteien und des politischen Establishments der Bundesrepublik entwickelten. Problematisch in diesem Zusammenhang seien vor allem zeitgenössische Begriffe wie „Anti-Amerikanismus vs. Amerika-Kritik“ in ihrer Verwendung als analytische Konzepte zur Beschreibung der einzelnen politischen Gruppierungen und Faktionen. Mit Anti-Atomkraft und Umweltbewegung untersuchten BIRGIT METZGER (Freiburg) und SILKE MENDE (Tübingen) die Vorgeschichte der Friedensbewegung. Erst entlang struktureller sowie personeller Kontinuitäten sei die Verknüpfung der zentralen Themen Ökologie und Frieden („Ökopax“) gelungen, wobei der unterschiedlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung als Bewegung, und der daraus resultierenden Konflikte, eine nicht zu unterschätzende Rolle zugefallen sei.
CHRISTOPH BECKER-SCHAUM (Berlin) betrachtete im vierten Panel die institutionelle Organisation der Friedensbewegung im Hinblick darauf, die äußerlich zu vermutende Einheit von der tatsächlichen inneren Struktur abzugrenzen. Becker-Schaum führte in diesem Zusammenhang vor allem zwei maßgebliche Forschungspositionen zur Friedensbewegung (Thomas Leif und Ulrike C. Wasmuth) an, die sich in diesem Punkt diametral widersprechen. SUSANNE SCHREGEL (Darmstadt) widmete sich der räumlichen Dimension der (bundesdeutschen) Friedensbewegung. Diese sei für das politische Selbstverständnis und das praktische Handeln der beteiligten Akteure von Belang und als Analyseperspektive fruchtbar, weil bereits der NATO-Doppelbeschluss selbst einen Konflikt um die Wahrung geopolitischer Abgrenzungen darstelle. Unter dieser Prämisse müsse die DDR als selbsternannter „Ort des Friedens“ zukünftig verstärkten Eingang in die Forschung finden.
SASKIA RICHTER (Friedrichshafen) behandelte in Panel 4 die „Protagonisten der Friedensbewegung“ und verwies auf die methodische Problematik, die bei der Bildung zeitgemäßer Analysekriterien bzw. Akteurs-Kategorien bestehe. Es wurde angemerkt, dass für eine ihrem Selbstverständnis nach „basisdemokratische“ Bewegung, eine deutlichere Unterscheidung in „zentrale Repräsentanten, Führungs- und Leitfiguren“ in Abgrenzung von „Protagonisten“ notwendig sei; zudem müsse der Kategorie „Geschlecht“ sowie detaillierter Sozialstrukturanalyse erhöhte Aufmerksamkeit zu Teil werden. „Die Friedensbewegung der DDR“ war Gegenstand von RAINER ECKERT (Leipzig), die er ausgehend von den 1950er Jahren bis ins Jahr 1989 darstellte. Eckerts Beitrag hob insbesondere die religiöse Dimension und Verortung der Friedensbewegung hervor und warf die Frage nach dem Verhältnis und den Übergängen von Dissidenz- und Friedensbewegung der DDR auf. HOLGER NEHRING (Sheffield) referierte über „Transnationale Friedensnetzwerke“ und betonte die Existenz einer transnationalen Struktur für einzelne Friedenbewegungen, zeigte jedoch demgegenüber sowohl nationale Traditionslinien als auch –kontexte auf, die diese durchstößen.
LAURA STAPANE (Heidelberg) und KATHRIN FAHLENBRACH (Hamburg) widmeten sich in Panel 5 den medialen und visuellen Strategien der Friedensbewegung, wobei zum einen die visuelle Protestinszenierung der Friedensbewegung betrachtet (Habitus als Protestressource & Protestcodes), zum anderen aber auch die massenmediale Aufarbeitung der Protestaktionen am Beispiel der „Aktionswoche Herbst ’83“ untersucht wurden. JAN OLE WIECHMANN und SEBASTIAN KALDEN (Marburg) untersuchten die Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss innerhalb der christlichen Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses Kirche-Gesellschaft-Politik. Am Beispiel von Initiativen „Ohne Rüstung leben“ und „Sicherung des Friedens“ thematisierten sie den innerkirchlichen Friedensdiskurs und dessen Niederschlag auf Kirchentagen oder innerhalb des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz
In Panel 6 informierte DIETMAR SÜSS (Jena) über die Rolle der Gewerkschaften und zeigte anhand verschiedener generationeller Prägungen, Organisationskulturen, sowie Einzelgewerkschaften die unterschiedlichen Haltungen zur Friedensbewegung und zum NATO-Doppelbeschluss. REINHILD KREIS (Augsburg) wandte sich den Geschlechterdimensionen der Krisendebatte zu. Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit lagen dem Sprechen und Handeln der Friedensbewegung implizit in vielfältiger Weise zugrunde, doch nur die Frauenfriedensbewegung verband geschlechterspezifische Fragen mit denen von Krieg und Frieden auch explizit. Sie entwickelte Denk- und Handlungsformen, um militärische Gewalt ebenso wie Gewalt im Alltag zu überwinden, die als miteinander zusammenhängend gedacht wurden. CLAUDIA KEMPER (Hamburg) befasste sich mit den Zivilschutz-Vorbereitungen auf den atomaren Ernstfall in den nationalen Ausprägungen der USA, GB und der BRD seit den 1950er Jahren.
Im siebten Panel richtete PHILIPP BAUR (Augsburg) den Blick auf die populärkulturelle Rezeption der nuklearen Bedrohung. An Beispielen aus Popmusik, Literatur, Film und Kunst zeigte er, wie diese aus kulturhistorischer Perspektive als “Barometer” des Kalten Krieges gelesen werden können und darüber hinaus Teil der öffentlichen Debatte um die Nachrüstung wurden. Den Abschluss der Tagung bildete OLIVER BANGE (Potsdam), der die militärisch-strategische Dimension der „Rüstungs- und Waffensysteme des Zweiten Kalten Krieges“ am Beispiel der jeweiligen Planungen der opponierenden Militärbündnisse erläuterte.
Dank der Präsentationsart – die einzelnen Beiträge wurden jeweils von anderen AutorInnen vorgestellt – wurden die Diskussionsphasen von den TeilnehmerInnen als konstruktiv und ideenbringend empfunden. Dieses Format resultierte aus einer weiteren Zielstellung des Workshops, die u.a. darin bestand, eine geplante Handbuch-Veröffentlichung zum Thema redaktionell vorzubereiten. Einen weiteren, innovativen Akzent der bisherigen Arbeit des „Nuklearkrisen-Projekts“ bildet das unter www.nuclearcrisis.org entstehende Digitalarchiv.
[1] Siehe u.a. Mende, Silke. “Nicht rechts, nicht links, sondern vorn”: eine Geschichte der Gründungsgrünen. München: Oldenbourg, 2011; Richter, Saskia. Die Aktivistin: das Leben der Petra Kelly. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2010; Gassert, Philipp, Tim Geiger, und Hermann Wentker, hrsg., Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München: Oldenbourg, 2011.
Programm
Freitag, 01. April 2011
Begrüßung:
Christoph Becker-Schaum, Philipp Gassert, Martin Klimke, Wilfried Mausbach und Marianne Zepp
Panel 1
Chair: Wilfried Mausbach (HCA Heidelberg)
Von Helsinki nach Afghanistan: Der KSZE Prozess und der Beginn des Zweiten Kalten Krieges
Anja Hanisch, IFZ München-Berlin (vorgestellt von Florian Pressler, Uni Augsburg)
Der NATO-Doppelbeschluss: Vorgeschichte und Implementierung Tim Geiger, IFZ München-Berlin, Auswärtiges Amt (vorgestellt von Philipp Baur, Uni Augsburg)
Ein Sieg der Rüstungskontrolle? Die 1980er und das internationale politische System
Florian Pressler, Uni Augsburg (vorgestellt von Wilfried Mausbach, HCA Heidelberg)
Panel 2
Chair: Christoph Becker-Schaum (Heinrich Böll Stiftung / AGG Berlin)
Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher Perspektive
Hermann Wentker, IFZ München-Berlin (vorgestellt von Reinhild Kreis, Uni Augsburg)
Parteien und politisches Establishment in der BRD
Jan Hansen, HU Berlin (vorgestellt von Ines Reich-Hilweg, Berlin)
Die Anti-Atomkraft und Umwelt-Bewegung
Birgit Metzger, Uni Freiburg und Silke Mende, Uni Tübingen (vorgestellt von Hermann Wentker, IFZ München-Berlin)
Panel 3
Chair: Philipp Gassert (Universität Augsburg)
Die institutionelle Organisation der Friedensbewegung
Christoph Becker-Schaum, Heinrich Böll Stiftung (vorgestellt von Jan Ole Wiechmann, Uni Marburg)
Die Orte der Friedensbewegung
Susanne Schregel, TU Darmstadt (vorgestellt von Holger Nehring, University of Sheffield)
Samstag, 02. April 2011
Panel 4
Chair: Martin Klimke (GHI Washington)
Die Protagonisten der Friedensbewegung
Saskia Richter, Zeppelin University Friedrichshafen (vorgestellt von Anja Hanisch, IFZ München-Berlin)
Die Friedensbewegung in der DDR
Rainer Eckert, HDG Leipzig (vorgestellt von Tim Geiger, IFZ München-Berlin, Auswärtiges Amt)
Transnationale Friedensnetzwerke
Holger Nehring, University of Sheffield (vorgestellt von Oliver Bange, MGFA Potsdam)
Panel 5
Chair: Marianne Zepp (Heinrich Böll Stiftung)
Mediale und visuelle Strategien der Friedensbewegung
Laura Stapane, HCA Heidelberg und Kathrin Fahlenbrach, Uni Hamburg (vorgestellt von Silke Mende, Uni Tübingen)
Kirchen
Jan Ole Wiechmann und Sebastian Kalden, Uni Marburg (vorgestellt von Jan Hansen, HU Berlin)
Panel 6
Chair: Alexander Holmig (Universität Augsburg)
Gewerkschaften Dietmar Süss, Uni Jena (vorgestellt von Philipp Gassert, Universität Augsburg)
„Männer bauen Raketen“: Geschlechterdimensionen
Reinhild Kreis, Uni Augsburg (vorgestellt von Saskia Richter, Zeppelin University Friedrichshafen)
Atomschlag und Zivilschutz: Vorbereitungen auf den Ernstfall in Wissenschaft und Katastrophenschutz Claudia Kemper, FZH Hamburg (vorgestellt von Susanne Schregel, TU Darmstadt)
Panel 7
Chair: Martin Klimke (GHI Washington)
Nukleare Untergangsszenarien in Kunst und Kultur
Philipp Baur, Uni Augsburg (vorgestellt von Martin Klimke, GHI Washington)
Zwischen SS-20 und Pershing II: Die Rüstungs- und Waffensysteme des Zweiten Kalten Krieges
Oliver Bange, MGFA Potsdam
Panel 8 / Abschlussrunde „Was bleibt (wird)?“
Chair: Wilfried Mausbach (HCA Heidelberg)