Buchvorstellung und Vortrag

Buchvorstellung: NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung

17. Mai 2011, Auswärtiges Amt, Berlin

Dr. Heiner Geißler ist einem breiten Publikum als der Vermittler im Streit um Stuttgart 21 erneut bekannt geworden. Am 17. Mai 2011 schlüpfte er im Auswärtigen Amt in Berlin in die Rolle des Zeitzeugen, um den neu erschienen Band Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive (München: Oldenbourg, 2011) vorzustellen. Das Buch ist von den drei Historikern Philipp Gassert (Uni Augsburg), Tim Geiger und Hermann Wentker (beide Institut für Zeitgeschichte München-Berlin), herausgegeben und in Teilen verfasst worden. Es ist – wie Hermann Wentker in seinen einführenden Worten erklärte – der erste Versuch, die Geschichte des Nato-Doppelbeschlusses und der Nachrüstungsdebatte der 1980er Jahre historisch umfassend aufzuarbeiten. Das Buch behandelt neben der Innen- und Außenpolitik auch die gesellschaftlichen Reaktionen in Bundesrepublik wie DDR und bettet die Ereignisse in ihren europäischen und transatlantischen Kontext ein.

Auf Seiten der CDU war Heiner Geißler einer der Hauptprotagonisten der Nachrüstungsdebatte. Parteipolitisch in den 1960er Jahren in Baden-Württembergunter Kurt Georg Kiesinger sozialisiert, entwickelte er sich zusammen mit Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und anderen zu einem der „jungen Wilden“ der Union und verkörperte ein neues Politikverständnis, so Philipp Gassert in seiner Vorstellung des Festredners. Im Gegensatz zu Kiesinger habe Geißler den Konflikt bewusst gesucht und Kontroversen als Bestandteil einer modernen Mediendemokratie verstanden. Als CDU-Generalsekretär und zwischen 1982 und 1985 als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett Kohl, avancierte er auf Seiten der CDU zu einem der Wortführer in der Diskussion um die nukleare Nachrüstung. Für großes öffentliches Aufsehen sorgte 1983 Geißlers Vorwurf an Joschka Fischer und Otto Schily, der Pazifismus der 1930er Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht.

Philipp Gassert argumentierte, die Holocaust-Analogie mache deutlich, dass es in der Nachrüstungsfrage um mehr als nur einen sicherheits- oder außenpolitischen Konflikt gegangen sei. Für die Bonner Republik habe es sich um einen „Testfall für die Demokratie“ gehandelt, der Ausdruck eines inner-westdeutschen Selbstverständigungsprozesses um eine post-faschistische Gesellschaftsordnung gewesen sei.

In seinem Vortrag zeigte sich Geißler zunächst überrascht, dass die zeithistorische Forschung den „Systemzwang“ zur Anpassung der Bundesrepublik an den Ost-West- Konflikt so stark betone und auch über deren internationalistische Einbettung das Verhalten der damaligen Bundesregierungen erkläre. Darüber, so der Zeitzeuge, habe die CDU damals nicht nachgedacht. Die in der Einleitung des Bandes entwickelten vier heuristischen Erklärungsmodelle seien retrospektive Forschungsansätze, von denen er damals „keine Ahnung“ gehabt habe. Entscheidend sei damals für ihn und seine Parteifreunde von der CDU und der CSU das strategische Ungleichgewicht gewesen, das aufgrund der sowjetischen SS-20- Raketen entstanden sei. Dass es auch im Westen technologische Zwänge zur Modernisierung der nuklearen Waffensysteme und eine gewisse Eigenlogik des militärisch-industriellen Komplexes gegeben habe, sei für ihn neu. Die CDU habe sich in erster Linie vom Gebot der Bündnistreue leiten lassen.

Geißler hob hervor, dass entgegen aller anderslautender Vereinnahmungsversuche für ihn vor allem die CDU (und zwar diese allein, die bayerische Schwesterpartei habe in dieser Frage keine so bedeutsame Rolle gespielt) die Partei des NATO- Doppelbeschlusses gewesen sei. Ohne die politische Standfestigkeit der Kanzlerpartei hätte die Regierung Kohl den Nato-Doppelbeschluss, insbesondere seinen Stationierungsteil, nicht durchsetzen und implementieren können, was – so Geißler – dann zweifelsohne zu einer fundamentalen Krise der NATO geführt und sogar eine mögliche Abkehr der USA vom europäischen Schauplatz hätte auslösen können. Mit eigenem Informationsmaterial und Aktionstagen („10.000 Friedenstagen“) sei seine Partei die einzige innerhalb der Bundesrepublik gewesen,die sich offensiv mit den Argumenten der Friedensbewegung auseinandergesetzt habe.

Mit Blick auf die damaligen massiven Proteste der Friedensbewegung gestand Geißler ein, dass die CDU der öffentlichen Debatte zunächst nicht gewachsen gewesen sei. Das Konzept von „Frieden in Freiheit“ sei anfänglich dem „Frieden um jeden Preis“-Slogan der Friedensbewegung rhetorisch unterlegen gewesen. Insbesondere bei der Erklärung der ethisch-moralischen Dimension des Konfliktes sei die Regierungskoalition argumentativ ins Hintertreffen geraten. Geißler bezog sich dabei auf die damals von den Nachrüstungsgegnern gerne ins Feld geführte Bergpredigt und deren Gebot der Feindesliebe als Weiterführung der Nächstenliebe. Dieser plakativen Instrumentalisierung habe er mit seinem Pazifismus-Auschwitz-Diktum im Bundestag offensiv entgegengesteuert, denn – so Geißler weiter – zu seinem damaligen Ausspruch stehe er auch heute noch: Es sei schließlich kein Widerspruch zur Bergpredigt, wenn eine Demokratie sich und ihre Freiheit verteidige – gegebenenfalls auch durch atomare Rüstung. Gleichzeitig gestand Geißler ein, dass traditionelle Konzepte eines „gerechten Krieges“ (Augustinus, Thomas von Aquin) an sich durch Atomwaffen obsolet geworden seien, da diese auch das zerstören würde, was sie eigentlich schützen sollten. Daher sei der kriegsverhütende Abschreckungseffekt der Atomwaffen so entscheidend geblieben. Die CDU habe es zwar nicht geschafft, dieses Paradoxon gänzlich aufzulösen, doch sei es schließlich gelungen, die im Doppelbeschluß als Angebot bereits angelegte Abrüstung als das zentrale und existentielle Ziel in den Mittelpunkt zu rücken.

Den INF-Vertrag von 1987 (Vernichtung aller atomar bestückten Mittelraketen) sah Geißler deshalb auch als eine Bestätigung der konsequenten Umsetzung der Nachrüstung durch die CDU – mit langfristigen Folgen. Ohne die hierbei bewiesene Bündnistreue der Regierung Kohl sei eine deutsche Wiedervereinigung 1989/90 undenkbar gewesen, da sonst die internationale Unterstützung der westlichen Verbündeten für die deutsche Einheit noch schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen wäre. Der außenpolitische Konsens, der durch die Nachrüstungsdebatte in Frage gestellt worden war, sei letztlich durch die Beharrlichkeit der Regierung Kohl ebenfalls wieder hergestellt worden: Die NATO sei zu einem von allen politischen Parteien akzeptierten Teil unserer Wertegemeinschaft geworden. Auch alle nachfolgenden Bundesregierungen, so Geißler, hätten sich an diesen Grundsatz gehalten: Unter Berufung auf die von der NATO vertretenen Werte habe sich Deutschland etwa zum Schutz der Menschenrechte an den Militäraktionen im Kosovo und in Afghanistan beteiligt. Aus diesem Grund, so Geißler, sehe er die gegenwärtige deutsche Position in der Libyen-Frage kritisch.
Philipp Baur

Zum Buch:
Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung, Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, Oldenbourg 2011. 412 Seiten, Broschur, € 59,80 ISBN 978-3-486-70413-6 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer)

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt „Die Nuklearkrise: Transatlantische Friedensbewegung, Nachrüstung & Zweiter Kalter Krieg, 1975-1990“ unter www.nuclearcrisis.org

Foto: Alexander Holmig (Uni Augsburg) & Laura Stapane (HCA Heidelberg)